Vortrag
Donnerstag, 11.5.2023, 15:00h

Daniel Fulda

Was ist eine gute wissenschaftliche Erzählung? Überlegungen zur meist übergangenen Qualitätsfrage

Die seit den 1960er Jahren geführte Diskussion über die Erzählung als Denk-, Erklärungs- und Darstellungsform der Geschichtswissenschaft hatte vor allem ein theoretisches Interesse: die Klärung von wissenschaftstheoretischen Grundlagen und erzähltheoretischen Beschreibungsmöglichkeiten der historiographischen Tätigkeit. Doch ging es nicht ausschließlich um die theoretisch valide Erfassung der tatsächlichen Praxis. Bei nicht wenigen Diskussionsteilnehmern – insbesondere denen aus der Literaturwissenschaft – schwang vielmehr auch die normative Frage mit, wie Geschichte erzählt werden sollte und wie nicht. Die dominante Argumentationslinie folgte dabei dem Modernitätsgebot: ›Gute‹ Erzählungen seien solche, die etwaige Objektivitäts-, Konsequenz- und Erklärbarkeitsillusionen durchbrechen, z.B. durch Nicht-Linearität, ausgestellte Selbstreflexion und Mealepsen. Welche Funktion erfüllte diese normative Komponente? Welchen Sinn machte es, literarische Texte zu preisen, deren Erzählweise weit entfernt ist vom größten Teil der Historiographie gleich welcher Zeit? Konnten der Historiographie damit neue Wege aufgewiesen oder sollte ein eventuelles Unbehagen an der eher überraschend rehabilitierten Erzählform kompensiert werden? In der Folge wurde so eine Diskussion darüber, was eine auf die Normalpraxis der Historiographie bezogene gute wissenschaftliche Erzählung ist, verhindert. Für die Beurteilung der historiographischen Praxis hat die Narrativitätsdiskussion wenig gebracht. Ob es überhaupt möglich ist, Qualitätskriterien für die Erzählform historiographischer Texte anzugeben, soll abschließend erwogen werden. Eine Voraussetzung dafür könnte sein, auf letztlich geschichtsphilosophische Normen von Modernität zu verzichten.

Daniel Fulda, geb. 1966, studierte Geschichte, Germanistik, Historische Hilfswissenschaften und Pädagogik an der Universität zu Köln. Seit Mai 2007 ist er Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; 2007 bis 2020 war er Geschäftsführender Direktor des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der europäischen Aufklärung. Ausgewählte Publikationen: Seit wann und warum gibt es »deutsche Klassiker«? Zwölf Thesen im Ausgang von Klassiker-Erwartung und Buchmarkt des langen 18. Jahrhunderts (2021); »Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor.« Eine deutsch-französische Bild-Geschichte (2017); Schau-Spiele des Geldes (2005); Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860 (1996).