Vortrag
Donnerstag, 4.5.2017, 16:00h

Ralf Klausnitzer

„Läßt über den Geschmack sich streiten?“ Informelle Untergründe wissenschaftlicher Kommunikation: Theodor W. Adorno und Wilhelm Emrich im Radio (und außerhalb)

Am 8. Januar 1963 sendet der Hessische Rundfunk unter dem Titel „Läßt über den Geschmack sich streiten?“ ein Gespräch zwischen dem Sozialforscher und Kunstphilosophen Theodor W. Adorno und dem Literaturwissenschaftler Wilhelm Emrich. Dieses Gespräch „um die Objektivität des literarischen Urteils“ hat eine brisante Vorgeschichte: Emrich war zwischen 1931 und 1933 aktiver Teilnehmer in Seminaren von Theodor Wiesengrund Adorno gewesen und in dessen „Ästhetischen Übungen für Fortgeschrittene“ mit Beiträgen zu Benjamins Trauerspiel-Buch hervorgetreten. Doch während Adorno 1933 emigrieren musste, arbeitete Emrich nach der Promotion als Lektor für die „Deutsche Akademie“ auf dem Balkan und als Lehrer an einer Hermann-Lietz-Schule, bevor er im Januar 1942 ins Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda eintrat. Zunächst als „Erkundungsreferent“ an der Deutschen Bücherei Leipzig tätig (wo er auch an der Erstellung einer „Bibliographie des jüdischen Schrifttums in deutscher Sprache“ beteiligt war), observierte und indizierte er danach in der Schrifttumsabteilung des Ministeriums die nach wie vor intensive Literaturproduktion des „Dritten Reichs“. Zugleich habilitierte er sich mit einer profunden und bis in die 1970er Jahre mehrfach aufgelegten Untersuchung zur Symbolik von Goethes Faust II und zeigte publizistisch Flagge: Während Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung danach fragten, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“, analysierte der Adorno-Schüler Emrich in einem Aufsatz den „Einbruch des Judentums in das wissenschaftliche und fachliche Denken“. Wie kam es trotz dieser Vergangenheit zur Erneuerung der Kommunikation zwischen dem remigrierten Sozialforscher und dem Literaturwissenschaftler, der ungeachtet seiner Tätigkeit im RMVP eine beachtliche akademische Karriere machte? Welche sichtbaren und welche subkutanen Verbindungen bestimmten jene „troglodytischen Gespräche über die Urgeschichte des Geschichtlichen“, an die sich Emrich in der Festschrift zu Adornos 60. Geburtstag erinnerte – und wie lassen sie sich rekonstruieren? Und schließlich: Warum und wie sind öffentliche Wissenschaftskommunikationen und informelle Austauschprozesse in ihren Relationen zu beobachten – und was ergibt sich daraus für die Beschreibung und Deutung epistemischer Praktiken und Prozesse?

Ralf Klausnitzer studierte Philosophie in Rostow am Don und Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Promotion mit der Dissertation Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich (1998), Habilitation 2007. Seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin.
Ausgewählte Veröffentlichungen: Literaturwissenschaft. Begriffe – Verfahren – Arbeitstechniken (2004); Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft 1750-1850 (2007); Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen (2008); Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion, Bd. II: Wissenstransfer. Konditionen, Praktiken, Verlaufsformen der Weitergabe von Erkenntnis (Mit-Autor 2013); Ethos und Pathos der Geisteswissenschaften. Studien zur wissenschaftlichen Persona seit 1750 (Mit-Hrsg. 2015).