Vortrag
Donnerstag, 27.11.2014, 19h

Rebekka Habermas

Professorin für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Wie kolonial war das deutsche Kaiserreich? Der Skandal von Atakpame

Gesprächsleitung: Dr. Martin Schaad, Potsdam

Der Skandal, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Atakpame, einem kleinen Bezirk im westafrikanischen Togo zutrug, führte im Kaiserreich zu erregten Debatten über prügelnde Kolonialbeamte, die sich überdies an Afrikanerinnen vergangen haben sollten. Allenthalben empörte man sich über das, was zeitgenössisch als „Auswüchse“ schlechter Kolonialherrschaft verstanden wurde, ja der Skandal kann sogar als ein Auslöser für die Reichstagsauflösung von 1906 betrachtet werden. Und doch verbirgt sich hinter dem Skandal von Atakpame genauso wie hinter den zahlreichen anderen Medienskandalen, die von Gewalt fernab des Kaiserreichs berichteten, keineswegs die in Europa immer wieder erzählte Geschichte von bemitleidenswerten, geschlagenen schwarzen Frauen und Mädchen und gewaltbereiten Kolonialbeamten. Eine genaue Analyse der Geschehnisse in Deutsch-Togo, die statt einer aufgeregten Großstadtpresse Glauben zu schenken, versucht, die lokalen Deutungen und Gegebenheiten vor Ort in Deutsch-Togo ernst zu nehmen, kommt ganz anderen Geschichten auf die Spur.
Der Skandal von Atakpame ist allerdings nicht nur ein Beispiel dafür, dass europäische Skandalisierungen des Außereuropäischen mehr mit den eigenen Befindlichkeiten als mit den dortigen Geschehnissen zu tun hatte. Diese Skandalgeschichte gibt überdies Aufschluss über paradoxe Dynamiken, wie sie nicht nur im Kaiserreich zu beobachten waren: Sie führte dazu, dass über die wahren Begebenheiten in den Kolonien immer mehr geschwiegen wurde, ja, diese geradezu zum Verschwinden gebracht wurden, während man sich lautstark über mehr oder minder fiktive Gewalt- und Sexgeschichten empörte.

Rebekka Habermas lehrt und forscht seit 2000 als Professorin für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Göttingen. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen neben der Kolonialgeschichte auch die Geschichte des Bürgertums, die Rechts-, Verwaltungs- und Kriminalitätsgeschichte, Religionsgeschichte, Geschlechtergeschichte und Historische Anthropologie. Neben vielen Aufsätzen hat sie folgende Monografien verfasst: Wallfahrt und Aufruhr. Zur Geschichte der Wallfahrt in der frühen Neuzeit (1991); Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850) (2000) und Diebe vor Gericht. Die Entstehung der modernen Rechtsordnung im 19. Jahrhundert (2008). Jüngst erschien Von Käfern, Märkten und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne (Hg. mit Alexandra Pzyrembel, 2013).