Vortrag
11.12.2003

Mieke Bal

What If? The Language of Affect

“Affekt” ist seit einigen Jahren zu einem häufig gebrauchten Begriff in der Literatur- und Kunstkritik geworden; er ist an die Stelle von Begriffen wie “kulturelles Gedächtnis” oder “Trauma” getreten. Die Beschäftigung mit Affekten kann uns dazu verhelfen, Kunst jenseits der Trennungen von Geist und Körper oder Erkenntnis und Gefühl zu begreifen. Ich werde Affekte auch dann als bedeutsam auffassen, wenn sie im Kunstwerk selbst nicht oder nur in Ansätzen vorkommen. Sie sind vielmehr für den Leser oder den Betrachter die Voraussetzung, um überhaupt zu beginnen, das Werk zu verstehen. “Close reading”, jene Praxis genauer Aufmerksamkeit, die am Beginn der Interpretation steht, ist selbst eine affektive Anteilnahme. Diese Anteilnahme eröffnet einen Zugang zu etwas, das sonst fast unergründlich erscheint.
Das lässt sich gut an Eija-Liisa Ahtilas Videoinstallation The House zeigen und analysieren, einem Werk, dessen Erzählerin uns ihre psychiotischen Wahnvorstellungen zu schildern scheint. Sie tut dies jedoch, ohne dass eine psychische, affektive Aufgeregtheit sichtbar würde. Meine These ist, dass die Abwesenheit des Affekts im Film, verbunden mit der notwendigen affektiven Anteilnahme des Zuschauers, den Schlüssel dazu liefert, um dieses Werk als etwas zu verstehen, was am psychiotischen Gemüt modelliert, nicht aber darin positioniert ist. Letzteres wird somit zu einem hoch effektiven kulturellen Modus der Wahrnehmung.

Mieke Bal ist Professorin für Literaturtheorie an der Amsterdam School for Cultural Analysis (ASCA), A.D. White-Professor-at-Large an der Cornell University. Gründungsdirektorin der ASCA. Eine Auswahl wichtiger Arbeiten ist vor kurzem unter dem Titel Kulturanalyse im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, auf Deutsch erschienen. Weitere Veröffentlichungen u.a.:
* Narratology. An Introduction to the Theory of Narrative, 1985, erw. Ausg. Toronto 1997
* Reading Rembrandt. Beyond the Word-Image Opposition, Cambridge 1991
* Double Exposures. The Subject of Cultural Analysis, New York 1996
* Quoting Carravaggio. Contemporary Art, Preposterous History (1999)
* Looking In. The Art of Viewing, Amsterdam 2001
* Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide, Toronto 2002