Vortrag
Freitag, 26.1.2018, 18:00h

Harro Albrecht

Von Journalisten als Gefühlsverstärkern

Wir Medizinjournalisten sollten über den Dingen stehen. Wir berichten transparent, uneigennützig, sachlich und unvoreingenommen. Wir sind neutrale Beobachter und Botschafter. Im Pressekodex Ziffer 14 heißt es dazu explizit: „Bei Berichten über medizinische Themen ist eine unangemessen sensationelle Darstellung zu vermeiden, die unbegründete Befürchtungen oder Hoffnungen beim Leser erwecken könnte. Forschungsergebnisse, die sich in einem frühen Stadium befinden, sollten nicht als abgeschlossen oder nahezu abgeschlossen dargestellt werden.“
Soweit die Theorie. Was aber, wenn der Gegenstand der Berichterstattung den Journalisten selbst und vor allem seinen Kollegen unter die Haut geht, die Ur-Instinkte aktiviert? Als 2006 auf der Insel Rügen die Vogelgrippe in Deutschland ankam, als sich 2014 das Ebola-Virus in Westafrika ausbreitete, breitete sich auch in der ZEIT Nervosität aus. Die einen trieb die Sorge um die eigene Unversehrtheit oder die der Angehörigen um, die anderen wehrten sich gegen vermeintliche Panikmache. Der Medizinredakteur befand sich in der Sandwich-Position. Fast täglich sollte er die richtigen Antworten liefern – obwohl sich selbst die Experten über die Fakten und Risiken noch nicht eins waren. Die Angst war auf dem „Planeten Speersort“ angekommen und spiegelte hautnah die Stimmung im Land wieder.
Was würde der Medizinredakteur tun? Sich hinreißen und sich als „Gefühlsverstärker“ für eine der beiden Extreme instrumentalisieren lassen? Zumindest ökonomisch wäre das wahrscheinlich nützlich. Immer dann, wenn gefühlte Medien-Botschaft und Rezipienten-Sorge sich gegenseitig befruchtend umspielen, wird die Bindung zwischen beiden stärker und die Auflage steigt kurzfristig. Dieses Wechselspiel ist natürlich alles andere als neutral, sachlich und unvoreingenommen. Als Reflex ist es noch eine verzeihlich menschliche Reaktion auf eine Bedrohung, als ökonomisches Kalkül ist es verderblich. Es birgt die Gefahr „unbegründete Befürchtungen“ zu schüren.
Ich bin Medizinredakteur, Arzt, in Public-Health-Fragen ausgebildet und damit gleich dreifach Teil der „öffentlichen Gesundheitspflege“. Die Krisenkonstellation zu Zeiten von Ebola und Vogelgrippe brachte mich in nie gekannte Dilemmata. Viele Fragen blieben unbeantwortet.
Inwieweit haben Medien während der Ebola- und der Vogelgrippekrise die Karte Emotion aus ökonomischem Eigeninteresse gespielt? Wie lässt sich verhindern, dass Medizinjournalisten selbst, ohne es zu wollen, zum Angstverstärker werden? Nimmt die Emotionalisierung der Gesellschaft durch die Online- und die sozialen Medien zu? Wie reagiert das Publikum? Ist der aktuelle Vertrauensverlust in die traditionellen Medien vielleicht ein Ergebnis dessen, dass die Karte Emotion wissentlich oder unwissentlich zu oft gespielt wurde? Welche Auswirkung hat die ökonomische Krise der traditionellen Medien auf diesen Trend? Ist die Skepsis gegenüber der Wissenschaft und die Abkehr von biomedizinischen Ansätzen das Langzeitresultat einer emotionalen Überlastung durch Medien? Was stand am Anfang: ein allgemeines Gefühl der Angst, dass nur verstärkt wurde oder die Panikmache durch Medien, die erst den Keim für Angst legte? Welche Rückwirkung hat die Emotionalisierung von Themen langfristig auf die Medien selbst? Und was kann ein einzelner Medizinredakteur tun, um diesen verhängnisvollen Kreislauf zu durchbrechen?

Harro Albrecht ist seit 2000 Wissenschaftsredakteur im Ressort Wissen der Wochenzeitung DIE ZEIT. Approbiert als Arzt, promovierte er in Neuroanatomie und praktizierte in Husum, Mölln und als Vertretungsarzt in Maidstone, UK. Zudem wirkte er als Dokumentationsjournalist beim Spiegel, als Redakteur im Wissenschaftsteil der SonntagsZeitung in Zürich, als Wissenschaftsredakteur bei Spiegel Online und im Spiegel. 2007 war Harro Albrecht Global Health Fellow der Nieman-Foundation in Harvard und 2009 Jurymitglied des EU Health Prize for Journalists der EU-Kommission für Gesundheit. Er ist Autor des Buches Schmerz – Eine Befreiungsgeschichte (2015).