Joachim Radkau
Diffuse Angst und Sehnsucht nach Leidenschaft
Carl Hilty, Schweizer Staatsrechtler und Nervenratgeber, dessen Lebenshilfen noch auf dem Nachttisch Konrad Adenauers lagen, spottete um 1900 über die Deutschen: Diese brüsteten sich zwar gerne mit dem Bismarck-Wort »Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt«, fürchteten in Wahrheit dagegen Gott nicht sehr und hätten stattdessen vor allem möglichen anderen Angst. Aus damaliger Sicht ein typischer Zug des »nervösen Zeitalters«, das sich seit den 1880er Jahren massenhaft selbst diagnostizierte: Die ganz konkrete Furcht alter Art tritt zurück gegenüber diffusen Ängsten, und eben darin besteht ein pathogener Zug der Zeit. Diese Zeitdiagnose führte verstärkt zu einer positiven Umwertung der Leidenschaft, die sich in Deutschland schon seit dem Sturm und Drang abgezeichnet hatte. Über zwei Jahrtausende hatte die Überwindung der Leidenschaften als Weg zur Weisheit gegolten; jetzt wird die starke Leidenschaft selbst zur Erlöserin von jenen diffusen Ängsten und Begierden, die die Zeitgenossen per »Neurasthenie« als Zeitkrankheit empfanden. Für den hochnervösen Max Weber wurde die Leidenschaft sogar zum Ursprung wahrer Wissenschaft.
Joachim Radkau, geb. 1943, Studium in Münster, Berlin, Hamburg; Promotion 1970 in Hamburg mit einer Dissertation über die deutsche USA-Emigration nach 1933; ab 1971 Wissenschaftlicher Assistent, ab 1974 Dozent an der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe; seit 1980 Professor an der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld.
Ausgewählte Veröffentlichungen: Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (1989); Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler (1998); Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt (2000); Mensch und Natur in der Geschichte (2002); Max Weber – Die Leidenschaft des Denkens (2005)