Daniel Kothenschulte
Die Zukunft des Erzählens. Werner Herzogs zeitbasierte Kunst
Werner Herzogs filmisches Werk hat sich seit seinen Anfängen nicht nur den gängigen Genre-Kategorien des Kinos widersetzt. Wenn wir es, was vielleicht nicht sehr originell ist, mit einem Baum vergleichen wollen, dann sprießen dessen Zweige bis heute in so viele Richtungen, dass sie ihr gemeinsam tragendes Geäst manchmal verdecken. Und wie es scheint, steht dieser Baum zu allem Überfluss auch noch am Zaun zu Nachbars Garten. Ich möchte mich gerne mit ein paar Zweigen befassen, die in den Garten der bildenden Kunst hineinreichen, weshalb die Filmwelt vielleicht nicht immer Notiz von ihnen nimmt.
Wir sind es heute gewohnt, Filmen auch im Kunstkontext zu begegnen. Sähe man einen Film wie Herzogs La Soufrière heute in einer Kunstausstellung, wäre er dort kein Fremdkörper mehr. Man würde ihn mit Werken von Filmkünstlern wie Steve McQueen oder Apichatpong Weerasethekul vergleichen, die sich der gängigen Kategorisierung zwischen Dokumentarfilm und individuellem künstlerischen Ausdruck widersetzen. 1977, als das Werk entstand, waren Filme im Kunstkontext jedoch nur selten anzutreffen. Dabei lehrt uns insbesondere die frühe Filmgeschichte, dass Dokumentarfilme oft zugleich besonders radikale künstlerische Filme sind. René Clair prägte in den zwanziger Jahren den Begriff des »reinen Films« für jene Freiräume, in denen selbst das kommerzielle Kino zu Kunstwirkungen findet, die dem Bewegungsbild ureigen sind. Werner Herzog sucht derartige Bild- und Klangwirkungen, die für ihn eine »ekstatische Wahrheit« bergen, sehr bewusst. Dahinter stehen Konzepte des Erhabenen, die philosophische und kunsthistorische Wurzeln haben. Mit der Kunstgeschichte beschäftigte sich Herzog zuletzt ausführlich in seinem Film Cave of Forgotten Dreams und seiner Museumsinstallation bei der New Yorker Whitney-Biennale, Hearsay of the Soul, einer audiovisuellen Inszenierung nach Werken des Niederländers Hercules Segers (1590-1638). Mein Vortrag widmet sich der Frage, ob der inzwischen gewachsene Kontext einer musealen Filmkunst, der »time based art«, auch Herzogs Schaffen ein breiteres Verständnis eröffnet. Und wie unterscheidet sich Herzogs Werk hier von Strategien bildender Künstler? Eine wichtige Rolle spielt dabei der Einsatz von Musik.
Daniel Kothenschulte, geb. 1967, Filmkritiker für die Frankfurter Rundschau. Kothenschulte studierte Kunstgeschichte, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft sowie Germanistik in Köln und Bochum; Dozent an der Hochschule für Film und Fernsehen München, Lehraufträge an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt am Main und an der Fachhochschule Dortmund. Ausgewählte Publikationen: Nachbesserungen am amerikanischen Traum. Der Regisseur Robert Redford (1998/2001); (Mitautor) Mike Kelley – Sublevel: Dim Recollection. Illuminated by Multicolored Swamp Gas. Deodorized Mass with Satellites (1999); (Mitautor) Andreas Slominski, wo sind die Skier? Where are the Skis? On the occasion of the Exhibition Andreas Slominski, Neue Arbeiten, New Works, 10. November 2000 – 13. Januar 2001, Jablonka-Galerie (2001); (mit Robert Nippoldt) Hollywood in den Dreißiger Jahren (2010); Die Zukunftsruine. Metropolis 2010 – Fritz Langs restaurierter Klassiker (2010).