Mitchell G. Ash
Die Wissenschaften im Prozess der deutschen Vereinigung. Eine »Übernahme« mit unerwarteten Folgen
Nach über 30 Jahren gibt es noch keine zusammenfassende Darstellung der Rolle der Hochschul- und Wissenschaftspolitik im Prozess der deutschen Vereinigung. Dafür halten sich drei konkurrierende Deutungsmuster, die schon sehr früh entstanden sind, bis heute: die These einer »Kolonisierung« (neuerdings »Übernahme«) des Ostens durch den Westen; die Behauptung einer notwendigen »Erneuerung« eines politisch korrumpierten und epistemisch mittelmäßigen Hochschul- und Wissenschaftssystems; und das Narrativ einer »Erneuerung mit Bedauern«, welches die grundsätzliche Entscheidung für die Ausdehnung des bundesdeutschen Systems in den Osten für richtig und notwendig hält, aber die daraus resultierenden persönlichen und institutionellen Verluste zur Kenntnis nimmt.
In diesem Vortrag wird die deutsche Vereinigung im Bereich der Hochschul- und Wissenschaftspolitik als ein Prozess besprochen, in dessen Verlauf manches nach zähen Verhandlungen bewusst angestoßen, aber vieles mehr improvisiert worden ist – mit Ergebnissen, die für viele Beteiligten anders kamen als erwartet. Dabei sollen entgegen der bisherigen Praxis die Wandlungen an den Hochschulen und in der außeruniversitären Forschung zusammen betrachtet und der grundlegende Methodenfehler gemieden werden, das Geschehen in den »abgewickelten« Disziplinen als Muster für alles Weitere zu behandeln.
Mitchell G. Ash (PhD Harvard University) ist emeritierter ordentlicher Professor für Geschichte der Neuzeit mit Schwerpunkt Wissenschaftsgeschichte an der Universität Wien und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie der European Academy of Sciences and Arts. Sein gegenwärtiger Forschungsschwerpunkt ist die Beziehungsgeschichte von Wissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert. Als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin von 1990 bis 1991 und häufiger Gastforscher in Berlin in den 1990er Jahren wurde er zum Zeitzeugen der deutschen Vereinigung.