Hermann Schmitz
Die Hegung des Zorns
Der Zorn ist ein leiblich ergreifendes, danach eventuell personal verarbeitetes Halbding. (Halbdinge wie die reißende Schwere, mit der er verglichen wird, unterscheiden sich von Volldingen durch unterbrechbare Dauer und eine Kausalität, in der Ursache und Einwirkung dem Effekt gegenüber zusammenfallen.) Erst seit Platon und Aristoteles, im Zuge der Introjektion, wird der Zorn in einen Seelenzustand umgedeutet. Als thymós ist er den Griechen ein halbautonomer Regungsherd (wie unser Gewissen). Ihm gegenüber versagt die personale Bearbeitung in der Medea des Euripides. Seither dominiert der Macht des Zorns gegenüber die Aufgabe seiner Hegung auf drei Weisen: psychologisch (durch vernünftige Selbstbemächtigung nach Platon), religiös (nach Paulus) und rechtlich (durch die abendländische Rechtskultur des Zorns, heute vornehmlich als Einübung mürrischer Missgunst der vermeintlich Zukurzgekommenen).
Hermann Schmitz, geb. 1928. Bis 1993 auf dem Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Kiel. Begründer der Neuen Phänomenologie. Veröffentlichungen u.a.: System der Philosophie, fünf Bände (1964–1980); Subjektivität. Beiträge zur Phänomenologie und Logik (1968); Neue Phänomenologie (1980); Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie (1990); Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik (1989/1992); Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel (1992); Die Liebe (1993); Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität (1995); Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie (1997); Der Leib, der Raum und die Gefühle (1998); Der Spielraum der Gegenwart (1999); Was ist Neue Phänomenologie? (2003).