Frank Biess
Angst und Demokratie in der Bundesrepublik. (Dis)kontinuitäten seit 1945
Angst wird gemeinhin als Antidot zu Demokratie verstanden. Angst korrumpiert ethische und moralische Werte und macht anfällig für Populismus, Demagogie und Xenophobie. Bereits Montesquieu identifizierte Angst als Grundemotion der tyrannischen Regierungsform. Die vermeintliche Inkompatibilität von Angst und Demokratie war somit auch nach 1945 eine weit verbreitete Sichtweise. Immer wieder erklärten in- und ausländische Wissenschaftler und Kommentatoren die Zerstörung der Demokratie und den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland mit weitverbreiteten Ängsten – vor dem Bolschewismus, vor der Arbeitslosigkeit, vor dem nationalen Niedergang –, die dann über die Identifikation mit einem charismatischen Führer vermeintlich wieder eingedämmt werden sollten. Nicht umsonst war die „Freiheit von Furcht” eine der von Franklin D. Roosevelt benannten elementaren westlichen Freiheiten, für die die Alliierten im Zweiten Weltkrieg kämpften.
Aber waren Angst und Demokratie in der Tat unvereinbar? Die Geschichte der „alten” Bundesrepublik seit 1945 wirft diesbezüglich massive Zweifel auf. Rekurrierende Angstzyklen waren hier vielmehr auf komplizierte Weise immer eng verbunden mit dem Prozess der Liberalisierung und Demokratisierung der Nachkriegsgesellschaft. Populäre Ängste erfüllten dabei höchst unterschiedliche und zuweilen gegensätzliche Funktionen: Sie reflektierten einerseits ein anhaltendes und weitverbreitetes Misstrauen gegenüber dem westdeutschen Staat, funktionierten andererseits aber auch als zunehmend sensibler Sensor für die der Demokratie drohenden Gefahren.
Der Vortag analysiert die Angstgeschichte der Bundesrepublik im Hinblick auf gegenwärtige Angstkrisen. Inwiefern ähnelten die Objekte, die Ausdrucksformen, oder die politischen Funktionen der Ängste der alten Bundesrepublik den gegenwärtigen Ängsten? Inwiefern waren sie grundsätzlich anderer Natur? Inwiefern verschoben sich Gehalt und Funktion von Ängsten an der Schnittstelle von Erinnerungskultur und Zukunftswahrnehmung? Und welche Schlüsse lassen sich aus der Angstgeschichte der alten Bundesrepublik für den Umgang mit gegenwärtigen Ängsten ziehen?
Frank Biess ist Professor of History an der University of California San Diego. Er studierte Geschichtswissenschaften in Marburg, Tübingen und St. Louis bevor er 2000 an der Brown University promoviert wurde. Zur Zeit schreibt er an einem Buch mit dem Titel German Angst? Fear and Democracy in Postwar West Germany. Ausgewählte Publikationen: Homecomings. Returning POWs and the Legacies of Defeat in Postwar Germany (2006); Science and Emotions after 1945. A Transatlantic Perspective (Mit-Hg. 2014); Histories of the Aftermath. The Legacies of the Second World War in Europe (Mit-Hg. 2010); Conflict, Continuity, and Catastrophe in Modern Germany (Mit-Hg. 2007).
Website: https://history.ucsd.edu/people/faculty/biess.html