Vortrag
Mittwoch, 29.6.2016, 18:30h

Dr. Andrea Roedig

Publizistin, Wien

Vom Leben als Werkzeugkiste. Jean-Paul Sartres Theorien und Simone de Beauvoirs Memoiren

Eines der dünnsten Bücher, die Jean Paul Sartre je geschrieben hat, sind seine im Alter von 59 Jahren verfassten Jugenderinnerungen. Gerade einmal 145 Seiten umfasst Les Mots (Die Wörter), während Das Sein und das Nichts bei 1000 Seiten liegt, die Kritik der Dialektischen Vernunft bei 870. Sartre schrieb auch lieber die Biografien anderer, 970 Seiten hat seine Studie über Genet, das Mammut-Werk zu Flaubert, Idiot der Familie, ufert in 3000 Druckseiten aus. Umgekehrt verhält es sich bei Sartres Gefährtin. Im Œuvre von Simone de Beauvoir nehmen sechs Memoirenbände einen breiten Raum ein, und zusätzlich sind auch ihre Romane wie Sie kam und blieb oder Die Mandarins von Paris unverkennbar autobiografisch gefärbt. Zusammen mit den postum erschienenen Briefwechseln ergibt sich oft der Eindruck, hier mehr über das Privatleben zu erfahren, als einem lieb sein kann. De Beauvoirs Memoiren und Sartres Theorien bilden in mehrfacher Hinsicht zwei Seiten einer Medaille. Ihre Erinnerungen enthüllen, welche persönlichen und auch psychischen Motive sein theoretisches Werk inspirieren. Denn Sartres Denkstrukturen sind stark biografisch geformt, während de Beauvoirs theoretische Schriften klarer, sachlicher und freier erscheinen. Vielleicht, weil sie das Private in die Memoiren ausgelagert hatte? Ich werde zeigen, dass nicht de Beauvoir, sondern Sartre der eigentlich »exhibitionistische« Schreiber ist.

Andrea Roedig, geboren in Düsseldorf, promovierte im Fach Philosophie, war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin, später Geschäftsführerin der Grünen Akademie der Heinrich Böll Stiftung. Von 2001 bis 2006 leitete sie in Berlin die Kulturredaktion der Wochenzeitung Freitag. Seit 2007 lebt und arbeitet sie in Wien, schreibt als freie Publizistin für diverse deutsche und österreichische Medien, v.a. im Bereich Kulturessay und Alltagsreportage. Seit Mai 2014 Mit-Herausgeberin der Zeitschrift Wespennest. Letzte Buchveröffentlichungen: Bestandsaufnahme Kopfarbeit (mit Sandra Lehmann, 2015); Über alles, was hakt. Obsessionen des Alltags (2013).