Vortrag
Dienstag, 15.1.2008, 19h

Mischa Gabowitsch

Albert-Einstein-Stipendiat, Caputh/Princeton

Exportschlager Vergangenheitsbewältigung? Russland und der deutsche Umgang mit der NS-Vergangenheit

Gesprächsleitung: Prof. Dr. Christa Ebert, Frankfurt/Oder

Kann ein ehemaliger Kriegsgegner zum moralischen Vorbild werden? Kann und soll der Gulag in Russland so „bewältigt“ werden, wie es in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Holocaust geschehen ist? Muss Demokratietauglichkeit und Reife einer Bevölkerung daran gemessen werden, ob man der schreckensreichen Vergangenheit des eigenen Landes mit Schuld und Sühne statt Stolz und Ehrfurcht begegnet?
Seit den 1960er Jahren dienten Deutschlandbilder Regimegegnern in der Sowjetunion als ein Hohlspiegel, der dem eigenen Land vorgehalten wurde – mal um dessen totalitäre Züge aufzuzeigen, mal um Reue für den Massenterror der Stalinzeit anzumahnen. Nach der Perestroika wurde speziell die deutsche Vergangenheitsbewältigung, meist in vereinfachter, ja verzerrter Darstellung, für eine liberale Minderheit zu einem erstrebenswerten Ideal, zu einem Maßstab, den sie – stets mit enttäuschendem Ergebnis – an ihre Landsleute anlegten. Ähnlich wie in Deutschland die Bewältigung der NS-Zeit vielen zum Leitfaden für den Umgang mit der DDR-Vergangenheit wurde, forderten in Russland viele Demokraten einen neuen Nürnberger Prozess gegen kommunistische Funktionäre. Auch deutsche Gesprächspartner priesen ihren russischen Freunden die bundesrepublikanische Vergangenheitsbewältigung nicht selten als erprobtes „Modell“ an.
Heute erscheint der negative Identitätsdiskurs deutscher Prägung einer wachsenden Zahl von Russen als nationale Schwäche, ja als erzwungener Kniefall vor dem Westen. Diese abschätzige Meinung ist vielfach dem eigenen Identitätstrauma geschuldet. Nicht zuletzt ist sie aber auch eine Reaktion auf die oft mit erhobenem Zeigefinger daherkommenden Westler im eigenen Land.
Muss sich das Projekt eines reuevollen Umgangs mit der Vergangenheit aber an Deutschland als Vorbild ausrichten? Der Vergleich zwischen Russland und Deutschland, zwischen Gulag und Holocaust, wird wegen der allzu offensichtlichen Unterschiede oft vorschnell abgetan. Aber auch Unterschiede können lehrreich sein. In all ihrer Komplexität betrachtet, kann die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ Russland durchaus dabei helfen, mit den Geistern von gestern fertigzuwerden, ohne sie erneut heraufzubeschwören.

Mischa Gabowitsch ist der erste Albert-Einstein-Stipendiat. Das Albert-Einstein-Stipendium wurde von Einstein Forum und ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius gemeinsam ins Leben gerufen, um das so oft geforderte, aber selten geförderte interdisziplinäre Denken zu stärken. Das Stipendium ermöglicht einen fünfmonatigen Forschungsaufenthalt im Sommerhaus von Albert Einstein in Caputh.
Mischa Gabowitsch ist 2007 mit einer Benennung der Princeton Society of Fellows ausgezeichnet worden.

Eine Gemeinschaftsveranstaltung mit der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius