Vortrag
Mittwoch, 29.6.2016, 12:30h

Dr. Matthias Kroß

Wissenschaftlicher Referent, Einstein Forum, Postdam

„Etwas in mir spricht dafür meine Biographie zu schreiben“. Zu Ludwig Wittgenstein und Laurence Sterne

Wittgenstein und Sterne – diese Kombination mag auf den ersten Blick erstaunen. Beiden gemeinsam ist jedoch ein geistverwandtes, von philosophisch motivierten Überlegungen geprägtes Nachdenken über die Position des Subjekts in der Rekonstruktion seiner eigenen Geschichte, seiner Handlungsautonomie und die Art und Weise seiner Identitätsbildung. Beide nehmen dabei ihr »Ich« zum Ausgangspunkt, aber keineswegs zum Ziel ihrer Darstellung: Ebenso wie der Protagonist Tristram Shandy als Subjekt an der Grenze des Romangeschehens verbleibt, um von dort aus die Welt zu präsentieren, so verortet der junge Wittgenstein sein eigenes personal-philosophisches Ich an der „Grenze seiner Welt“, um einen reinen Realismus der Welt zu präsentieren. Diese Ek-Zentrierung eröffnet Sterne die Möglichkeit, die Welt als empirisch unendlich und daher am Ende undarstellbar zu begreifen; seine Protagonisten gewinnen ihr eine Logik nur um den Preis der Manie ab. Wittgensteins Ek-Zentrierung des Subjekts enthüllt die logisch-philosophische Fassung der Welt ebenfalls als ein manisches Unternehmen, gegen die er die letztliche Undarstellbarkeit des Lebens stellt. Seine Untersuchungen zu den Sprachspielen sowie zu den historisch wandelbaren Lebensformen mit ihren jeweiligen Gewissheitsstrukturen bezeugen die Vorrangigkeit des Nicht-Darstellbaren. Die konsequent nicht-lineare, spielerische Kompositionstechnik beider Autoren verweist programmatisch – zuweilen auch parodistisch – auf den Umstand, dass sich das Subjekt nur in seinen Vorstellungen zum Demiurgen der Welt, die sein Leben ist, aufschwingen kann. Eine Autobiographie im traditionellen Sinne – als subtiler Pakt des Subjekts mit dem Leben – erscheint aus dieser Perspektive selbst als eine manische Vorstellung.

Matthias Kroß, geb. 1953 in Osterode am Harz. Studium der Geschichte und Politologie für das Lehramt an Gymnasien an der Philipps-Universität Marburg/Lahn. Nach dem Erwerb des 1. Staatsexamens für das Lehramt an Gymnasien (Geschichte und Politische Weltkunde) 1977–1979 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere Geschichte der Phillips-Universität Marburg. 1985 Zweites Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien. Seit 1980 publizistische und wissenschaftsjournalistische Tätigkeit. Daneben Studium der Philosophie (Promotion 1993). Seit 1996 Wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum in Potsdam. Forschungs- und Lehrtätigkeit: Seit 1998 Lehrbeauftragter in der Fachrichtung Allgemeine Soziologie an der Universität Potsdam; außerdem Gastprofessuren an der British Academy, London, der Universität Visva-Bharati im westbengalischen Santiniketan und an der Universität Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen, vor allem zu Werk und Leben Ludwig Wittgensteins, u.a. Klarheit als Selbstzweck (1995); zuletzt als Herausgeber mit Esther Ramharter: Wittgenstein übersetzen (2012). Zusammen mit Jens Kertscher Herausgeber der Buchreihe Wittgensteiniana im H-E Verlag.