Vortrag
Mittwoch, 29.6.2016, 16:00h

Vincent Kaufmann

Professor für Medien und Kultur; Direktor, Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement, Universität St. Gallen

Theorie durch das Guckloch. Zum Unterschied zwischen Proust und Freud

Von Sigmund Freuds »Bruchstücke einer Hysterie-Analyse (Dora)« schreibt die Historikerin der Psychoanalyse Elisabeth Roudinesco, es sei ein Roman à la Schnitzler, Strindberg oder Proust: so ein wenig dekadent, mit geheimen Wünschen, die ausgelebt werden oder nicht, mit Übergriffen bei ruhigen oder eben nicht so ruhigen Spaziergängen an schönen Seen, mit Frauen und Männern, die sich viel Zeit nehmen, um ihre Neurosen zu pflegen, bis es dann für die große Liebe zu spät ist. Mit der Studie über »Dora« (Ida Bauer) hätte Freud also einen Roman »à la Proust« geschrieben, wobei sich dabei sofort die Frage stellt, wieso es ihm nicht gelungen oder nicht besser gelungen ist, oder zumindest die Frage, was ist eigentlich der Unterschied zwischen Dora und der Suche nach der verlorenen Zeit, oder Strindberg, Schnitzler usw.; also schlussendlich der Unterschied zwischen psychoanalytischen Erzählungen und Literatur.
Ausgehend von der berühmten »Guckloch-Szene« mit der Marcel Proust in der Wiedergefundenen Zeit sein Meisterwerk praktisch abschließt, wird hier versucht, diese Frage mit Blick auf unterschiedliche subjektive Positionierungen zu besprechen: Während sich der Proust‘sche Erzähler insgeheim an den perversesten Ausschweifungen beteiligt, schaut der Psychoanalytiker anderswo hin, will nichts sehen, nur hören, und hört entsprechend bei »Dora« nur die Neurose, verpasst ihre Perversion und bleibt zugleich ein Theoretiker, wird nicht zum Schriftsteller. Im Gegensatz zu vielen (post)strukturalistischen Voten zu den Gemeinsamkeiten von Literatur und Psychoanalyse wird also zumindest dieser fundamentale Unterschied hier festgehalten.

Vincent Kaufmann ist seit 2010 Professor und Direktor am MCM-Institut (Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement), Lehrstuhl Medien und Kultur an der Universität St. Gallen. Er promovierte 1984 an der Universität Genf und lehrte in Genf, an der University of California, Berkeley, und The Johns Hopkins University, Baltimore, bis er 1996 nach St. Gallen berufen worden ist. Gastprofessuren an der ETH Zürich und der Université de Neuchâtel. Neuere Veröffentlichungen: Déshéritages (2015); Der Einfall des Lebens. Theorie als geheime Autobiographie (mit Ulrich Schmid und Dieter Thomä, 2015); Das öffentliche Ich. Selbstdarstellungen im literarischen und medialen Kontext (Mit-Hrsg. 2014); Das Plagiat (Mit-Hrsg. 2014); Buchzerstörung und Buchvernichtung (Mit-Hrsg. 2013); Bestseller und Bestsellerforschung (Mit-Hrsg. 2012); La Faute à Mallarmé. L’aventure de la théorie littéraire (2011) ; Ménages à trois. La littérature à l’épreuve du médico-religieux (2007).