Vortrag
Freitag, 21.11.2014, 15:30h

Melanie Möller

Spurensicherung. Überlegungen zur Hermeneutik des Lukrez

Lukrez‘ Lehrgedicht De rerum natura hat seit seiner Wiederentdeckung, deren illustre Geschichte uns zuletzt Stephen Greenblatt erzählt hat, zahlreiche Leser in seinen Bann geschlagen. In der pluralistischen, den freien Willen des Menschen akzentuierenden Ausrichtung der atomistischen Lehre sah man einen Weg, nicht nur der Widersprüchlichkeit der Welt zu begegnen, sondern auch dogmatische Erklärungsmodelle argumentativ auszuhebeln. Doch ist es nicht nur der Versuch, die Sinne zu rehabilitieren und sie zum wesentlichen Teil einer epistemisch ausgewiesenen Phänomenologie zu erklären, der Lukrez großen Ruhm beschert hat. Auch seine „hochpoetische“ Sprache (Klaus Binder) macht ihn zu einer Ausnahmeerscheinung unter den philosophischen Denkern. Aber worin liegt der spezifische Reiz dieser Poesie? In ihrer vom Autor avisierten didaktischen Transparenz? Weil es den „hellen Versen“ gelingt, dem sinnsuchenden Menschen die „dunkle“ Welt zu entschlüsseln? Welche Möglichkeiten, auf die atomare Welt zuzugreifen und sie durch künstlerische Transformation evident zu machen, traut Lukrez der Sprache überhaupt zu? Wie ist es um die gestalterische Freiheit des Autors und die deuterische des Lesers bestellt? Und was können Leser des 21. Jahrhunderts daraus lernen? Lukrez legt in seinem Text verschiedene Spuren hin zu einer philosophischen und philologischen Methode, die zugleich seine immanente Poetik widerspiegelt.

Melanie Möller, geboren 1972 in Bielefeld, promovierte 2002 in Bielefeld im Fach Klassische Philologie (Latinistik); 2009 wurde sie in Heidelberg habilitiert. Gast- und Vertretungsprofessuren in Berlin (2011/12), Münster (2011/12) und Heidelberg (2013/14). Seit 2012 ist sie Heisenberg-Forschungsstipendiatin an der Universität Heidelberg. Ausgewählte Publikationen: Talis Oratio – Qualis Vita. Zu Theorie und Praxis mimetischer Verfahren in der griechisch-römischen Literaturkritik (2004); Vom Selbst-Verständnis in Antike und Neuzeit. Notions of the Self in Antiquity and Beyond (Hg. mit A. Arweiler 2008); Ciceros Rhetorik als Theorie der Aufmerksamkeit (2013).