Vortrag
Dienstag, 17.6.2014, 19h

Eric D. Weitz

Dean of Humanities and Arts, Professor of History, The City College of New York

Liberaler Totalitarismus. Herbert Marcuse neu gelesen

Gesprächsleitung: Prof. Dr. Frank Bösch, Potsdam

Mit seinem Hauptwerk Der eindimensionale Mensch hatte Herbert Marcuse 1964 eine vernichtende Kritik an der fortgeschrittenen Industriegesellschaft vorgelegt. Die zentralen Begriffe der “Kontrolle”, des “Universums der Rede” und des “Totalitarismus” wurden von ihm aber nicht etwa auf politisch repressive Systeme angewendet, sondern zur Analyse der kapitalistischen Gesellschaft insgesamt eingeführt. Das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem sei totalitär, weil es in all seinen Facetten die permanente Reproduktion der bestehenden Ordnung zum Ziel habe. So dienen zum Beispiel die Werbung und der Konsum sowie die umfassende Quantifizierung aller Lebensbereiche allein dazu, die Gedankenwelt und das Verhalten des Einzelnen zu kontrollieren und zu steuern. Selbst Kunst und Sexualität – allgemein als Ausdruck menschlicher Freiheit betrachtet – würden zu eben diesem Zweck instrumentalisiert, so dass das Leben selbst schließlich ent-erotisiert worden sei.
Doch mochte Marcuse sich nicht mit einem so düsteren Bild der menschlichen Existenz abfinden. Die kritische Vernunft, wie reduziert auch immer, bliebe doch möglich und sei auch der gegebenen Realität immanent. Zudem gäbe es einige Lebensbereiche, die sich der Quantifizierung entzögen, wie etwa Wertvorstellungen und ethische und politische Grundüberzeugungen. Hier, so Marcuse, läge auch weiterhin ein Widerstandspotential.
Heute, in einer Zeit des scheinbaren Triumphs des neoliberalen, globalisierten Kapitalismus, lohnt es, Marcuses Begriff des liberalen Totalitarismus neu zu lesen. Seine Kritik an der totalen Verwaltung und dem technischen Fortschritt erscheint wieder aktuell, auch wenn für diesen Prozess heute wohl eher die blitzschnellen Transaktionen des Finanzsektors, denn die Geschwindigkeit der Fließbänder verantwortlich gemacht werden müssten.

Eric D. Weitz ist Dean of Humanities and Arts und Professor of History at The City College of New York. Er studierte Deutsche und Europäische Geschichte in Boston und an der Ruhr-Universität Bochum. Jüngste Buchveröffentlichungen: Weimar Germany: Promise and Tragedy (2007; zweite, erw. Auflage 2013), A Century of Genocide: Utopias of Race and Nation (2003) und Creating German Communism, 1890-1990 (1997).

Eine Gemeinschaftsveranstaltung mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam