Vortrag
Donnerstag, 13.12.2012, 19:05h

Robert Pfaller

Die Augenhöhe des Lebens. Über Souveränität und subalterne Identität

Johan Huizinga bestimmt bekanntlich das Spiel als das grundlegende Element der Kultur. Seine Begründung aber kommt nicht ohne Bezugnahme auf das Fest aus: Das Spiel erzeugt, so Huizinga, eine bestimmte Feierlichkeit; es produziert eine spezifische, von der profanen Alltagswirklichkeit abgetrennte Sphäre, in der eine von heftigsten Affekten geprägte Stimmung herrscht: Den „heiligen Ernst“.
Spiele sind also Feste; und da die Spiele sämtliche Formen der Kultur begründen, gibt es wohl nach Huizinga auch keine Feste, die nicht Spiele wären. Entscheidend für Huizingas Bestehen auf dem Spiel-Begriff (und dessen Bevorzugung gegenüber dem des Festes) dürfte darum sein, dass das Spiel, Huizinga zufolge, immer eine bestimmte, durchschaute Illusion enthält – ein „als ob“, an dessen Aufrechterhaltung sich die Spielenden erfreuen.
Der Psychoanalytiker Octave Mannoni hat eine Theorie der verschiedenen Typen von Illusion vorgelegt, die an diesem Punkt eine Weiterführung erlaubt: Es gibt Illusionen, die grundsätzlich nicht geglaubt werden, die „croyances“ (Aberglauben), und andere, die geglaubt werden – sie gehören dem Typus „foi“ (Bekenntnis) an. Die einen erzeugen Lust; die anderen Selbstachtung. Dementsprechend lassen sich auch Feste unterscheiden in solche, bei denen die Illusion entweder überhaupt nicht bewusst ist oder aber nicht geglaubt und darum an andere, vorzugsweise Kinder, delegiert wird (z. B. Olympiade, Silvester; Weihnachtsmann, Osterhase); und solche, bei denen die erwachsenen Subjekte sich selbst stolz als Träger der jeweiligen Illusion präsentieren (z. B. Reformationstag, Nationalfeiertag, 1. Mai).
Folgt man der psychoanalytischen Grundüberlegung, dass das Empfinden von nicht-psychotischen Erwachsenen durch den notwendigen Verlust eines ursprünglichen Objekts strukturiert ist, dann kann man Feste als Veranstaltungen zur temporären Wiedergewinnung dieser einstigen Vollkommenheit begreifen – und zwar unter Bedingungen, die auch für Erwachsene nicht unlustvoll (unheimlich) sind. Georges Bataille hat diese von mäßigenden Realitätsbedingungen entkoppelte Vollkommenheit als „Souveränität“ bezeichnet. Unter den gegenwärtigen Bedingungen von postdemokratischer Pseudopolitik, Genussscheu und Verbotsbejahung kommt diesem Gedanken besondere Aktualität zu: Feste wären demnach Momente, in denen wir Gelegenheit haben, uns einmal nicht nur als biopolitische Sachbearbeiter und subalterne Aufrechterhalter unserer biologischen Funktionen zu empfinden. In ihnen treten wir vielmehr sozusagen als Führungskräfte unseres Lebens auf. Wir begegnen ihm ebenbürtig, auf gleicher Augenhöhe.

Robert Pfaller, geboren 1962, studierte Philosophie in Wien und Berlin und war nach Gastprofessuren in Chicago, Berlin, Zürich und Straßburg Professor für Kulturwissenschaft und Kulturtheorie an der Kunstuniversität Linz. Seit 2009 ist er Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst Wien. Ausgewählte neuere Publikationen: Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur (2002); Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur (2008); Ästhetik der Interpassivität (2009); Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie (2011).